Reformen umsetzen für eine starke Volkswirtschaft in der Mitte Europas
In einem Interview mit unserem leitenden Redakteur Achim Griesel ruft Dr. Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank, dazu auf, notwendige Reformen in Deutschland nun auch wirklich umzusetzen, um den absteigenden Ast verlassen zu können. Außerdem sieht er China und Russland als große Verlierer der nächsten Jahre. Für die USA erwartet Schmieding auch nach den Wahlen keine fundamentalen Änderungen in der Steuer- und Ausgabenpolitik.
ENI: Was war für Sie die größte Herausforderung bisher in diesem Jahr und welche sehen Sie noch?
Dr. Holger Schmieding: Die größte Herausforderung in diesem Jahr war bisher, das Gleichgewicht zwischen Weltkonjunktur und Inflation durch eine besonnene Geldpolitik der großen Zentralbanken gut auszutarieren. Diese Herausforderung wird uns auch 2025 erhalten bleiben. Aktuell sehe ich die US-Wahlen als wichtigen Einflussfaktor auf uns zukommen.
ENI: Was sind Ihre Eindrücke zu beiden Herausforderungen?
Schmieding: Die Konjunktur im Euroraum außerhalb Deutschlands und vor allem in den USA hat uns im ersten Halbjahr 2024 positiv überrascht. Gerade in Südeuropa ist die Wirtschaft deutlich besser durch die ersten sechs Monate gekommen als erwartet. Gleichzeitig hat sich der Preisauftrieb auf beiden Seiten des Atlantiks erheblich beruhigt. Deshalb können die Zentralbanken jetzt wieder ihre Rolle als „Konjunkturpuffer“ wahrnehmen. So konnte auch die EZB mit moderaten Zinssenkungen auf sich abzeichnende Abwärtsrisiken für die Konjunktur reagieren, ohne eine erneut ansteigende Inflation zu riskieren. Da die US Fed ebenfalls ihre Zinsen senkt, zeichnet sich dort eine sanfte Landung der Konjunktur ab.
ENI: Und die US-Wahlen?
Schmieding: Der robuste Konsum und eine expansive Fiskalpolitik haben bisher für ein stärkeres Wachstum in den USA gesorgt als erwartet. Allerdings kühlt sich die Konjunktur nun auch in den USA langsam ab – aber eben langsam! Ein Einbruch ist nicht zu erkennen. Die weitere Entwicklung der US-Konjunktur hängt für mich stark von den Wahlen ab. Welche Regionen und Sektoren dabei die Nase vorn haben werden, dürfte deutlich davon abhängen, wer nach den Wahlen im Weißen Haus sitzt. Allerdings ist eher unwahrscheinlich, dass beide US-Kammern von der gleichen Partei gewonnen werden. Da beide Kammern dem US-Staatshaushalt zustimmen müssen und sich oft gegenseitig blockieren, ist es eher unwahrscheinlich, dass die Steuer- und Ausgabenpolitik sich fundamental ändert. Aber ob beispielsweise Donald Trump seine Drohungen mit hohen Strafzöllen für Einfuhren aus China, Mexiko und Europa umsetzen kann oder nicht, wird sich sowohl auf die Wirtschaft in Amerika als auch auf die entsprechenden Handelspartner auswirken. Von der Geopolitik, als alles beeinflussende Rahmenbedingung, mal ganz abgesehen. Hier könnte Trump zunächst einmal für weitere Unruhe sorgen.
ENI: Für Deutschland wird eine Rezession erwartet. Wie steht für Sie Deutschland aktuell da?
Schmieding: In Deutschland sehe ich eine kleine teils hausgemachte Rezession. Wir reden von steigenden Kosten in vielen Bereichen. Die vergleichsweise hohen Energiekosten und die überbordende Bürokratie tun ihr Übriges. Der aus meiner Sicht aktuell größte Hemmschuh für ein Wirtschaftswachstum ist allerdings der dauernde öffentlich ausgetragene Streit in der Ampel. Streit produziert Unsicherheit. Und wenn Unternehmen unsicher sind, investieren sie weniger. Die Ampel wäre gut beraten, etwas besonnener und geschlossener aufzutreten. Vor lauter Diskussionen werden die teilweise guten Lösungsansätze der Ampel, wie zum Beispiel das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, gar nicht thematisiert – geschweige denn von der Bevölkerung positiv wahrgenommen.
ENI: Was sind Ihre Vorschläge für eine stärkere Konjunktur in Deutschland?
Schmieding: Eine zweckgebundene Lockerung der Schuldenbremse für Investitionen wäre aus meiner Sicht sinnvoll. Dabei geht es mir um Investitionen nach der Definition der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, also um „echte Anschaffungen“. Es geht nicht darum, Sozialausgaben willkürlich als „Investitionen“ zu bezeichnen und dann auszuweiten. Außerdem sollte spätestens die nächste Regierung die Unternehmenssteuern senken, die „Rente mit 63“ beenden und weiter Sozialausgaben durchforsten. Dazu brauchen wir einen Kompromiss aus der politischen Mitte heraus. Und ich habe noch einen Wunsch: Einen leistungsfähigeren öffentlichen Dienst – vor allem dort, wo Verwaltung umgesetzt wird, also in den Ländern und Gemeinden. Dafür braucht es mehr Digitalisierung und auch mehr junge Mitarbeiter, die sich mit digitalen Themen bestens auskennen.
ENI: Wo sehen Sie Deutschland in fünf Jahren?
Schmieding: Wenn wir Reformen auch wirklich umsetzen, beispielsweise in einem neuen Anlauf nach der nächsten Bundestagswahl, sehe ich Deutschland weiterhin als starke Volkswirtschaft in der Mitte Europas. Dazu muss auch der Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge gestoppt werden. Wenn wir diese Reformen nicht schaffen, werden wir uns weiterhin auf dem absteigenden Ast befinden. Und das dürfte zu großen Herausforderungen führen, sowohl politisch als auch gesellschaftlich.
ENI: Und wie sehen Sie die globale Wirtschaft in fünf Jahren?
Schmieding: Die globale Wirtschaft wird auf jeden Fall breiter als bisher aufgestellt sein. Viele Schwellenländer werden an Bedeutung gewinnen. Das gilt allerdings wohl nicht mehr für China, das aktuell mit 17 Prozent Anteil an der Weltwirtschaft den zweiten Platz belegt hinter den USA (etwa 25 Prozent am globalen Bruttoinlandsprodukts BIP; Anmerkung der Redaktion) und vor dem Euroraum mit 15 Prozent Anteil. Doch China hat sich übernommen. Es kauft sich zwar derzeit durch subventionierte Ausfuhren weltweit Marktanteile, auch in Deutschland, aber zu teilweise sehr hohen inländischen Kosten. Das kann die Volksrepublik noch in eine schwierige Schieflage bringen. Russland wird aus meiner Sicht der große Verlierer sein. Die hohen Kosten des Krieges stauen einen Inflationsdruck auf. Hier sehe ich große wirtschaftliche Verwerfungen auf das Land zukommen. Indien wird sich dagegen weiter entwickeln, aber nicht in dem Maße, dass es bereits innerhalb von fünf Jahren zu den „großen Drei“ aufschließen wird. Große Teile Mittel- und Osteuropas bleiben für mich eine Erfolgsgeschichte. Ein Beispiel: Polen ist mittlerweile ein fast ebenso wichtiger Absatzmarkt für deutsche Waren wie China.
ENI: Was ist Ihnen aktuell persönlich noch wichtig?
Schmieding: Ich wünsche mir, dass die politische Mitte schon jetzt ein politisches Risiko bedenkt, das zwar wenig wahrscheinlich aber doch nicht mehr ganz ausgeschlossen ist. Sollten extreme Parteien wie die AfD und das BSW im neuen Bundestag mehr als 33 Prozent der Sitze haben, könnten sie mit dieser Sperrminorität jede Änderung des Grundgesetzes blockieren. Dann ließe sich beispielsweise kein neuer Sonderfonds für Verteidigungsausgaben oder für die Unterstützung der Ukraine einrichten. Denn alle Ergänzungen der Schuldenbremse müssen ja mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden. Das könnte für Deutschland und Europa fatale Folgen haben. Deshalb wäre es besser, wenn die Parteien der politischen Mitte sich bereits jetzt – also vor der nächsten Bundestagswahl – auf solche Vorhaben einigen könnten. (abg)
Der Beitrag ist zuerst in EXXECNEWS INSTITUTIONAL 07 erschienen.
Dr. Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank.