Tokenisierung der Finanzmärkte: Ist die Zukunft unausweichlich digital?
Kaum ein Thema beschäftigt die Finanzwirtschaft derzeit so stark wie die Tokenisierung von Vermögenswerten. Dieser Prozess der Umwandlung von Finanzanlagen wie Aktien, Immobilien und Rohstoffen in Token auf einer Blockchain (engl. für Blockkette, eine erweiterbare Liste von Datensätzen in einzelnen Blöcken) in einen digitalen Vermögenswert ruft eine Vielzahl von Akteuren und Lösungen auf den Plan – kaum eine Woche vergeht ohne Meldungen zu neuen Anbietern, Projekten und Produkten. Wenig verwunderlich bei den Marktaussichten: Die Strategieberatung Boston Consulting Group prognostiziert, dass bis zum Jahr 2030 Werte von bis zu 16 Billionen US-Dollar tokenisiert werden könnten. Und die Großbank HSBC und das Finanzunternehmen Northern Trust schätzen, dass bis 2030 fünf bis zehn Prozent aller Assets in Token umgewandelt worden sind.
Warum? Weil die Vorteile für die Finanzbranche nicht von der Hand zu weisen sind. Die Blockchain-Technologie vereinfacht – auch wenn es für einige immer noch kompliziert klingen mag – viele der traditionell angewandten Prozesse. Die Distributed-Ledger-Technologie (DLT), deren Unterform die Blockchain-Technologie ist, bezeichnet eine IT-Infrastruktur sowie ein Protokoll zur sicheren und vor allem dezentralen Validierung, Speicherung und Aktualisierung von Daten. Eine Eigenschaft der Blockchain: Sie kommt ohne zentrale Administratoren aus – Informationen beziehungsweise Werte werden direkt zwischen den Akteuren übertragen. Einige der Vorteile: Kostenreduktion (die Transaktionen laufen ohne manuelle Tätigkeiten ab), Effizienzsteigerung (eine schnellere Abwicklung von Transaktionen im Vergleich zu traditionellen Systemen), Liquiditätserhöhung (Assets können in kleinere Anteile zerlegt werden, Anleger können somit auch mit geringen Beträgen diversifiziert investieren) und eine automatisierte Compliance. Denn der sogenannte Smart Contract, das digitale Programm, das zur Anwendung kommt, wird mit dem Vermögenswert verknüpft und bildet so die Rechte und Pflichten des gesetzlichen Vertrages ab.
Auch viele rechtliche Hürden sind mittlerweile genommen: Das im Juni 2021 in Kraft getretene Gesetz zur Einführung von elektronischen Wertpapieren (eWpG) sieht als Kernstück die Öffnung des deutschen Rechts für elektronische Wertpapiere vor. Und die Verordnung über Märkte für Kryptowerte (MiCAR Markets in Crypto-Assets Regulation, in Kraft getreten im Juni 2023) soll einen harmonisierten europäischen Regulierungsrahmen für Kryptowerte schaffen. Die Rahmenbedingungen für die Finanzwirtschaft liegen also vor.
Dass speziell der Finanzbereich von der Blockchain-Technologie profitieren könnte, ergibt auch die Studie „W3NOW“ des Hanseatic Blockchain Institute. Die Studie, erschienen im März 2024 und durchgeführt in Zusammenarbeit mit Statista und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, beleuchtet die Einführung und Nutzung der Blockchain-Technologie in der deutschen Wirtschaft und macht den Finanzsektor als Spitzenreiter aus. Tom Haverland, Projektleiter der „W3NOW“-Studie, liefert dafür auf Anfrage von EXXECNEWS Erklärungen: „Es gibt zwei integrale Gründe für die Spitzenreiter-Position des Finanzsektors in der Blockchain Adoption, die sich gegenseitig bedingen: Die Blockchain funktioniert als eine zuverlässige Datenbank, in der Transaktionen sicher gespeichert werden können. Diese Kernfunktion der Technologie passt besonders gut zum Finanzsektor, wo Transaktionen eine fundamentale Rolle spielen. Die Blockchain kann nahezu die gesamte Infrastruktur für Kontenführung und den Handel automatisieren, was sie zu einem integralen Bestandteil dieses Sektors macht. Im Gegensatz dazu dient die Blockchain in anderen Industrien, wie dem produzierenden Gewerbe, eher als Ergänzung zu bestehenden Technologien, wodurch die Anwendungsintegration komplexer und der Entwicklungsfortschritt langsamer ist“. Der zweite Grund: Dadurch, dass die Blockchain-Technologie in sich geschlossen die integralen Mechanismen der Kontoführung und des Handels im Finanzsektor abbilden kann und dabei aufgrund der Automatisierung erhebliche Kosten einspart, haben sich viele Akteure am Markt intensiv mit der Technologie auseinandergesetzt und die Anwendungen weiterentwickelt. „Daraus hat sich bereits heute eine fruchtbare Ökonomie gebildet, in der traditionelle Größen des Finanzsektors mit jungen und innovativen Start-ups zusammenarbeiten und einen Wissensaustausch herstellen. Aus diesem Aktionismus heraus resultiert wiederum die intensivere Entwicklung neuer Lösungen für die Blockchain Adoption im Finanzsektor“, so erklärt Haverland. Die größten Herausforderungen liegen vor allem in der Einhaltung gesetzlicher und regulatorischer Rahmenbedingungen. Ein weiteres Hindernis stelle die mangelnde Integration von traditionellen Finanzprodukten und -infrastrukturen mit der Blockchain dar. Dies beschränke die breitere Anwendung der Technologie. Allerdings sei zu erwarten, dass sich mit der fortschreitenden technologischen Entwicklung auch die Integrationstiefe und somit die Nutzungsvielfalt im Finanzsektor erhöhen wird.
An der Nutzungsvielfalt arbeitet beispielsweise die V-Bank: Das Münchner Unternehmen befasst sich intensiv mit Anwendungsmöglichkeiten rund um die Tokenisierung von Assets sowie Blockchain-basierten Handelsstrukturen und tokenisiertem Geld. Als erste reine Depotbank und als zweite Bank in Deutschland (nach der Commerzbank im November 2023) hat sie die Lizenz für das Kryptoverwahrgeschäft von der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) erteilt bekommen. Die Kryptoverwahrung sei für die V-Bank die Grundlage für zahlreiche Anwendungsbereiche rund um digitale Assets, die sie ihren Geschäftspartnern als Services anbietet. Hierzu zählen unter anderem der bereits seit Sommer 2023 mögliche Kommissionshandel von Kryptowerten wie Bitcoin und Ether sowie der Handel von Kryptowertpapieren. Stefan Lettmeier, Produktionsvorstand der V-Bank, sagt: „Wir stehen erst am Anfang eines Technologiezyklus, der das Potenzial hat, die Art wie in Zukunft Vermögenswerte emittiert, gehandelt und verwahrt werden, grundlegend zu verändern. Wir sind stolz darauf, dass uns BaFin und EZB als einer der ersten Banken in Deutschland das Kryptoverwahrgeschäft anvertrauen.“ Mit dem Lizenzerhalt könne die V-Bank nun alle Dienstleistungen der Verwahrung selbst erbringen und so ihre Unabhängigkeit stärken. Lettmeier: „Die Kryptoverwahrlizenz verschafft uns die Flexibilität, die wir als Dienstleister benötigen. Wir investieren bereits jetzt in die Technologien, die morgen Alltag sein werden. Die Tokenisierung von Vermögenswerten wird unseren Geschäftspartnern neue Effizienz- und Ertragspotenziale erschließen. Wir unterstützen sie, indem wir das nötige Wissen aufbauen und mit Ihnen gemeinsam ausgewählte Anwendungsmöglichkeiten prüfen und umsetzen.“ Derzeit liege ein Schwerpunkt der Anwendungsfälle auf der Tokenisierung sogenannter „Real World Assets“, also zum Beispiel Immobilien, Infrastruktur, Windparks oder Kunst, und deren Handel über Kryptowertpapiere.
Über einen Investment-Brokerage-Marktplatz ermöglicht auch das Hamburger Fintech Finexity privaten und professionellen Investoren, in tokenisierte Private Markets zu investieren. Mit einer Mindestanlagegröße von 500 Euro lässt sich mit Hilfe der Blockchain-Technologie in Immobilien, Diamanten, Oldtimer oder Kunstwerke investieren (siehe dazu Interview mit Finexity-CTO Tim Janssen). Kürzlich ist das Fintech, das laut eigener Angabe rund 10.000 Nutzer auf der Plattform aufweist, mit Cashlink Technologies eine strategische Partnerschaft eingegangen, um den DLT-basierten Kapitalmarkt weiterzuentwickeln. Bisher gab es laut Unternehmen vor allem Insellösungen für den Vertrieb tokenisierter Finanzprodukte und keine Lösung für einen funktionierenden Sekundärmarkt. Dies begrenzte Vertriebskraft, Asset-Angebot und Liquidität der Marktplätze. Die Kooperation zwischen den beiden Fintechs ermögliche Emittenten und angebundenen Marktplätzen in Zusammenarbeit mit dem Wertpapierinstitut Effecta die voll regulierte Emission von Kryptowertpapieren nach dem eWpG und den Co-Vertrieb von Kryptowertpapieren auf angebundenen Vertriebsplattformen und Banken beider Unternehmen.
Auch im Wertpapiergeschäft wird die Tokenisierung also vorangetrieben. Das Volumen aller emittierten tokenisierten Wertpapiere kletterte von 31 Millionen Euro Ende 2022 auf rund 183 Millionen Euro Ende 2023 – auch dank einer stetig steigenden Anzahl an Emissionen. Diese haben sich im selben Zeitraum fast vervierfacht. Diese Zahlen veröffentlichte das Wertpapierhaus der Sparkassen DekaBank in seinem „Deka Digital Asset Monitor“. Für die Fondsindustrie sieht die DekaBank großes Potenzial in der Blockchain-Technologie. Bemerkenswert sei dabei die Vielfalt an Einsatzmöglichkeiten: Die Blockchain-Technologie könne für die Emission und Registerführung des Fondsanteilscheingeschäfts und für die im Fonds befindlichen Finanzinstrumente eingesetzt werden – beispielsweise im Kontext von Kryptowerten oder Kryptowertpapieren. Insgesamt ergibt sich laut Studie „Wertpapiergeschäft und Distributed-Ledger-Technologie: Wie DLT Effizienz und Nachhaltigkeit verbindet“ eine Fülle an möglichen Konstellationen der Fondszusammensetzung (siehe Abbildung). Laut der gemeinsamen Studie der DekaBank, des Frankfurt School Blockchain Center und intas.tech sei ein Vorteil die hohe Effizienzsteigerung, wenn alle anfallenden Prozessschritte und Finanzinstrumente auf einer einheitlichen, blockchain-basierten Infrastruktur abgewickelt werden. Innerhalb der Fondsindustrie seien die Weichen zur Digitalisierung und effizienten Prozessgestaltung mittlerweile gestellt. Kommen DLT-basierte Plattformen zum Einsatz, können weitere Prozesse innerhalb des Fondsanteilscheingeschäfts, wie zum Beispiel die Orderaufgabe und die Orderdurchführung, auf einer IT-Infrastruktur abgewickelt werden. In einer Übergangsphase wird das Vorhalten der vorhandenen Infrastruktur laut DekaBank aber zunächst parallel zum Aufbau einer DLT-Infrastruktur erfolgen. Denn für einen vollständig auf DLT abgebildeten Prozess bedürfe es hinreichend tokenisierter Finanzinstrumente innerhalb des Finanzmarktes (beispielsweise Aktien, Anleihen und Geld). Hierfür sei zum einen die regulatorische Grundlage noch zu schaffen (Aktien) beziehungsweise eine Infrastruktur der EZB aufzubauen, zum Beispiel durch den digitalen Euro. Auch mit einem anderen, mittlerweile immer wichtiger werdenden Aspekt könnte die Technologie punkten: Die Studie zeigt, dass Unternehmen ihre Nachhaltigkeitsziele mit dem Einsatz einer Blockchain-Infrastruktur realisieren können, da durch die Digitalisierung einzelner Prozesse in der Summe eine neue, homogene und komplett digitale IT-Infrastruktur entsteht. Insgesamt also ein immenses Potenzial auch für die Fondsindustrie.
Marion Spielmann, COO Bankgeschäftsfelder & Verwahrstelle bei der Deka, sagt auf Anfrage von EXXECNEWS: „Die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) birgt enormes Potenzial für die weitere nutzenstiftende Digitalisierung und Automatisierung heutiger Prozessketten am Finanzmarkt. Das gilt für die Fondsindustrie im besonderen Maß, da nahezu die vollständige Wertschöpfungskette digitalisiert werden kann. Die Charakteristika der DLT – Dezentralität, Transparenz und Unveränderlichkeit – erhöhen nicht nur die Effizienz und Resilienz, sondern ermöglichen zudem neue, digitale Geschäfts- und Anlagemodelle.“
Fazit: Viele Aspekte der Tokenisierung von Assets machen die Technologie zu einer vielversprechenden Innovation in der Finanzwirtschaft. Sie hat das Potenzial, den Handel, die Verwaltung und das Investieren von Vermögenswerten grundlegend zu verändern – trotz der aufgeführten Herausforderungen. (MB)
Der Beitrag ist zuerst in EXXECNEWS Ausgabe 11 erschienen.